Bundesmodellprojekt Jugendbeteiligung von Jugendlichen in Wilhelmsfeld (2019-2022)

Das Projekt war zuallererst ein Jugendbeteiligungsprojekt. Am Anfang stand die Erarbeitung eines Mobilitätskonzepts für Wilhelmsfeld aus Sicht der Jugendlichen. Nach der Entstehung eines Ideenpapiers mit den Jugendlichen (Mobilitätskonzept für Wilhelmsfeld) fanden mehrere Diskussionsrunden zwischen der Jugendgruppe, dem CarSharing-Anbieter stadtmobil und Politiker aus der Kreispolitik, der Landespolitik, dem Bürgermeister und schlussendlich dem Gemeinderat aus Wilhelmsfeld statt. Diese befürworteten alle die Vorschläge der Jugendlichen, waren begeistert von deren freiwilligen Engagement und positiv überrascht, in welcher Geschwindigkeit das Papier ausgearbeitet wurde und welche guten Ideen den Köpfen der Jugendlichen entsprungen sind. Trotz einem für die Jugendlichen langen Zeitraum – für Politik und Verwaltung sehr schnell – haben die Jugendlichen einiges bewegt und Politik und Verwaltung letztendlich auch gehandelt.

Im weiteren Verlauf des Jahres 2020 entstand auf Grundlage der Ideen und Verbesserungsvorschläge der Jugendlichen ein Film „Wilhelmsfeld – wie wir es sehen“. Dieser wurde mit dem Berliner Filmemacher Philip Kuhne gemeinsam mit der Gruppe gedreht. Es wird deutlich, dass die Jugendlichen gerne in Wilhelmsfeld leben, aber dringend Verbesserungsbedarf in Sachen öffentlicher Nahverkehr und ein Ausbau von Mobilitätsstationen besteht. Dieser Film fand große Zustimmung in einem darauffolgenden Onlineaustausch mit Bewohnern und Politiker aus Wilhelmsfeld. Im Anschluss an den Film entwickelte die Jugendgruppe einen Onlinefragebogen, um die Bewohner aus Wilhelmsfeld aktiv mitzunehmen und sich ein Meinungsbild der Allgemeinheit zu erschaffen. Leider blieb der Onlinefragebogen trotz mehrmaliger Veröffentlichung im lokalen Amtsblatt ohne sichtlichen Erfolg aufgrund von mangelnder Beteiligung.

Anfang des Jahres 2021 baten die Jugendlichen diesmal die Kandidierenden der anstehenden Landtagswahl zu einem Onlineaustausch. Hierbei wurden in einem knapp zweistündigen Gespräch die Themen Klimawandel, Tierschutz, Mobilität und Schulpolitik behandelt. Den Fragen stellten sich die Landtagskandidaten Dr. Albrecht Schütte (CDU), Hermino Katzenstein (Bündnis 90/Die Grünen), Dieter Amann (AFD), Johanna Legnar (Klimaliste), Leon Wollmann (Volt) und Michael Stemmler (der den verhinderten SPD-Kandidaten vertrat).

Damit das Projekt im Ort, abgesehen von den regelmäßig erscheinenden Zeitungsartikeln, zu noch mehr Aufsehen gelangt, entwickelten die Jugendlichen im April 2021 gemeinsam mit einer Grafikdesignerin passende Plakate zu ihren Forderungen und Ideen. Diese wurden in Wilhelmsfeld aufgehängt und sollten für mehr öffentliche Wahrnehmung sorgen. Zudem besuchten die Jugendlichen einen selbstfahrenden Bus und eine vollständige Mobilitätsstation mit allen aktuellen Sharing Angeboten in Berlin. Nach Besichtigung des selbstfahrendes Busses, kamen die Jugendlichen dann zu dem Entschluss, dass die Technologie noch zu unausgereift für eine wirkliche Nutzung im Ort ist.

Zum Jahresende 2021 wurde das Buch „Jugendliche Mobilität im ländlichen Raum – Eine Streitschrift für Jugendliche Beteiligung im Öffentlichen Personennahverkehr“ erstellt, gedruckt und anschließend der damaligen Vorsitzenden der Kinderkommission des Deutschen Bundestages Frau Schneidewind- Hartnagel übergeben. Diese empfang die Jugendlichen in ihrem Wahlbüro in Mosbach.

Im Jahr 2022 konnten die Jugendliche dann die ersten Erfolge in der Umsetzung ihres Mobilitätskonzeptes sammeln. Es wurde nach langer Suche eine Förderung für Fahrradboxen gefunden, sodass diese in Wilhelmsfeld an insgesamt drei Standorten aufgebaut werden konnten und es fand die Einführung des Nachtbusses für das Wochenende statt. Sodass die Bewohner aus Wilhelmsfeld nun auch nach 23.30Uhr am Wochenende aus Heidelberg nach Hause kommen.

Die Jugendlichen haben nochmal den Versuch unternommen, Daten auszuwerten. Dafür fand eine Zusammenarbeit mit ioki statt. Hier konnten durch ioki datenbasierte Aussagen zum Mobilitätsverhalten der Wilhelmsfelder*innen getroffen werden, die jetzt zu einer Diskussion über ein OnDemandverkehr zwischen den Bürgermeistern in den umliegenden Gemeinden geführt hat. Im Sommer 2022 wurde zudem ein neuer Film gedreht, indem die Ergebnisse und Erkenntnisse des Modellprojektes festgehalten werden. Diese sind auch in unserer Abschlusspublikation „Jugendliche gestalten den ÖPNV“ zu finden.

Ziele beim Einbezug von Jugendlichen

Gerade ländliche Regionen sind darauf angewiesen, dass junge Bürger ein positives Bild von ihrer Herkunftskommune haben, um dort zu bleiben bzw. nach dem Studium in der Phase der Familiengründung wieder zurückzuziehen. Mit dem Projekt soll die Identifikation von Jugendlichen mit dem Ort verbessert werden.

Daneben sollten Jugendliche auch durch ihr Engagement erfahren, wie sie sich als Bürger einmischen können (Lernort Demokratie), und Veränderungen anstoßen. Wir wollten gemeinsam mit ihnen Vorschläge entwickeln, für ihre Ideen werben und diese schlussendlich auch umsetzen. Den Ideen der Jugendlichen sollten bewusst keine Grenzen und kein Rahmen gesetzt werden. Es ging darum, die Jugendlichen von Anfang an aktiv am Prozess des Projektes zu beteiligen und das Projekt gemeinsam aufzubauen. Jugendliche Mobilität ist vor allem unter dem Aspekt des Klimaschutzes zu sehen. Um eine Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs zu erreichen, wäre es nahezu sträflich, die Gruppe, die auf den ÖPNV angewiesen ist, nicht frühzeitig einzubinden. Nur so kann verhindert werden, dass sie nach dem Erwerb des Führerscheins dem ÖPNV verlorengehen. Solche Projekte wenden sich auch gegen die in Deutschland nach wie vor vorherrschende Sozialisationspraxis, in der das Auto als ganz selbstverständlich und gleichsam ‚natürliches‘ Fortbewegungsmittel gilt.

Mobilität ist für Jugendliche eine Form der gesellschaftlichen Teilhabe. Sie befinden sich in einer Lebensphase, in der sie selbstständig werden und neue soziale Räume erschließen wollen. Das heißt, gerade Jugendliche, die auf dem Land leben, wollen auch mal den Heimatort verlassen. Von daher ist es leicht nachvollziehbar, dass das Thema Mobilität für Jugendliche von entscheidender Bedeutung ist. Gerade im hügeligen Wilhelmsfeld, sind die Jugendlichen aufgrund der Topografie viel stärker auf den ÖPNV angewiesen. Teilhabe bedeutet aber auch, dass sich die Verantwortlichen für Nahverkehr und Jugendhilfeplanung dieser Aufgabe bewusst sind und Jugendliche bei diesem wichtigen Thema mit einbeziehen.

Das Konzept: Jugendliche gestalten den ÖPNV
1. Mit Jugendlichen gemeinsam ist es möglich, ein Mobilitätskonzept für die Kommunen zu entwickeln (Jugendliche sind Expert:innen für Mobilität).
2. Veränderung braucht engagierte erwachsene Personen in der Bevölkerung und bei Entscheidungsträger:innen.
3. Die Nahverkehrsbranche muss das Thema Jugendbeteiligung für sich entdecken – Jugendhilfeplanung und Nahverkehrsplanung müssen miteinander verzahnt werden.
4. Jugendbeteiligung sollte in Fragen der Mobilität interkommunal und anlassbezogen erfolgen.
5. Die Mobilitätsplanung muss zusätzlich datenbasiert gegengelesen werden.

1. Jugendliche als Experten
Im Grunde ist folgende Aussage fast schon banal: Jugendliche sind auf alle Formen der Mobilität (außer Auto) angewiesen, wenn sie sich eigenständig aus ihrem Ort bzw. innerhalb des Orts bewegen wollen. Das bedeutet, Jugendliche sind Vielnutzer einer Mobilität jenseits des Autos, man könnte auch sagen: jenseits der Windschutzscheibenperspektive. Dadurch haben sie ein aus der Praxis heraus entstandenes Wissen, wie die Systeme funktionieren. Dabei ist ihnen auch bewusst, wo die Mängel liegen bzw. wo Verbesserungsbedarfe bestehen. Es ist klar, dass es sich dabei natürlich um subjektive Einzelmeinungen handelt. Allerdings bedeutet das auch, dass die Erfahrungen umso vielfältiger und repräsentativer werden, je mehr Jugendliche gewonnen werden können, was letztlich nur eine Bereicherung bei der Entwicklung des Konzepts sein kann. Wer in der Verkehrsplanung oder der Kommunalpolitik beschäftigt ist, weiß, dass kein Verkehrsteilnehmer objektiv an eine Verkehrsplanung herangehen wird, da es jeder aus seiner Perspektive sieht. Das ist bei Jugendlichen nicht anders. Das hat sich auch in dem Projekt sehr deutlich gezeigt. Im Idealfall gibt es im Ort eine aktive Gruppe, die das Thema aufgreift, eigenständig Konzepte erarbeitet und diese an die Politik weiterreicht. Die Regel wird jedoch sein, dass eine Kommune auf Jugendliche zugeht, die sich mit dem Thema beschäftigen möchten. Hier braucht es nach unserer Erfahrung Menschen, die in der Jugendarbeit erfahren sind und die wissen, wie Jugendliche am besten motiviert werden können. Wichtig ist auch, dass sie gleichzeitig das Know-how haben, mit Jugendlichen gemeinsam an einem Mobilitätskonzept zu arbeiten.

Es braucht Jugendarbeit, um die Prozesse anzustoßen.
Wenn es bereits Jugendbeteiligungsformen gibt, kann die Beteiligung bei der Mobilität hier angedockt werden. Abgesehen davon kann auch ein Beteiligungskonzept im Rahmen der Schulen entwickelt werden. Es braucht auf jeden Fall vor Ort Menschen, die Jugendliche dazu motivieren können, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Ein Wechsel von Arbeitsphasen und freizeitpädagogischen Angeboten ist ein guter Ansatz, ohne den die meisten Beteiligungsprojekte vermutlich scheitern würden.

Es braucht Experten für Mobilität zur Beratung
Es braucht aber auch Expert/innen, die sich in der Branche und im System des ÖV auskennen und die Jugendlichen auf Ideen bringen und anregen können. Und es nützt nichts, mit Jugendlichen gemeinsam Ideen zu entwickeln, sondern sie müssen dann auch mithilfe von Expert/innen auf die Praxistauglichkeit überprüft werden. Auch das gehört dazu, wie das Beispiel des selbstfahrenden Busses gezeigt hat.

2. Veränderung braucht engagierte Köpfe im Gemeinwesen
Bei der Umsetzung eines von Jugendlichen erarbeiteten Mobilitätskonzepts benötigt es im Gemeinwesen engagierte Köpfe aus der Bevölkerung und bei den Entscheidungsträger. Dazu gehören Bürgermeister, Verantwortliche bei dem für die Gestaltung des ÖPNV zuständigen Amts (Aufgabenträger) und die für den Straßenverkehr zuständigen Behörden. Außerdem ist es wichtig, Menschen als Multiplikator zu motivieren, um das Thema in der gesamten Bevölkerung platzieren zu können. Dies war eine Schwäche des Modellprojekts, dass im Vorfeld nur wenige wichtige Akteur gewonnen werden konnten. Insbesondere die Gesamtbevölkerung nahm das Projekt nicht in dem gewünschten Umfang zur Kenntnis.

1. Die Nahverkehrsbranche muss das Thema Jugendbeteiligung für sich entdecken – Jugendhilfeplanung und Nahverkehrsplanung müssen miteinander verzahnt werden.
Insgesamt fiel auf, dass die für den ÖPNV Zuständigen keine Erfahrungen im Dialog mit Jugendlichen haben. Bei der Ausschreibung von Linien findet im Vorfeld keine Beteiligung von Jugendlichen oder Erwachsenen statt. Der Landkreis delegiert die Ausschreibung an den Verkehrsverbund Rhein-Neckar, der diese dann organisiert bzw. die Linien und den Fahrplan festlegt. Die Gemeinden müssen der Ausschreibung im Vorfeld nicht öffentlich zustimmen. Eine Beteiligung ist aus unserer Sicht an dieser Form der Ausschreibung zwingend notwendig.

4. Jugendbeteiligung sollte in Fragen der Mobilität interkommunal und anlassbezogen erfolgen.
Die Schwäche des Konzepts war die Konzentration auf nur einen Ort. Mobilität findet aber (zumindest im ländlichen Raum) weitgehend interkommunal statt. Bis auf den örtlichen Verkehr bzw. die Organisation der letzten Meile ist es nicht ausreichend, lediglich den kleinen Mikrokosmos einer Kommune im Blick zu haben. Andererseits dürfte aber auch eine kreisweite Betrachtung keine praktikable Vorgehensweise sein. Hier fehlen Erfahrungen in der interkommunalen Zusammenarbeit bei der Erstellung von Mobilitätskonzepten. Wenn Verkehr über Kreisgrenzen oder gar Ländergrenzen organisiert werden soll, müssen sich mehrere Gemeindeverwaltungen, Gemeinderäte und Aufgabenträger miteinander abstimmen. Die Gebietskulisse könnte analog zu der in vielen Regionen im Rahmen der Jugendhilfeplanung erfolgten Einteilung in Planungsräumen aufgegriffen werden. Räume, in denen sich Jugendliche aufhalten und bewegen. Vor dem Hintergrund dieser Räume könnte dann der ÖPNV organisiert werden. Blaupausen wird es hier nicht geben. Die Konzepte werden beispielsweise in Ortschaften mit weiterführenden Schulen anders sein als etwa in Wilhelmsfeld.

5. Die Mobilitätsplanung muss zusätzlich datenbasiert gegengelesen werden
Im letzten Projektjahr spielte die datenbasierte Auswertung eine große Rolle. Der Erfolg des Konzepts ‚Jugendliche als Experten‘ wurde politisch und auch in der Projektgruppe begeistert gefeiert. Es zeigte sich aber auch, dass dies allein zu wenig war. Festzustellen ist aber auch, dass sich nur sehr wenige Menschen für dieses Thema interessiert haben. Daher liegt die Schlussfolgerung nahe, dass das Konzept ‚Jugendliche als Experten‘ wenig repräsentativ sein könnte. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die Anzahl der beteiligten Jugendlichen nicht repräsentativ ist. An dem Konzept haben zwölf Jugendliche aktiv mitgewirkt. Im Umfeld waren noch weitere fünf beteiligt. Das sind in der Altersgruppe der 14-18-Jährigen immerhin 13 Prozent der Jugendlichen des Orts. Daher ist anzunehmen, dass der Teil der Jugendlichen erreicht wurde, der politisch interessiert ist und der das Gemeinwesen aktiv beeinflussen bzw. verändern möchte.

Die Befragung der Bevölkerung hatte keine große Resonanz. Gleichzeitig gelingen Verbesserungen auch nur auf lange Sicht. Das heißt, dann, wenn die Anzahl der ÖPNV-Nutzer/innen im Ort gesteigert werden könnte. Selbst die derzeitige Anzahl der ÖPNV-Nutzer/innen war der Projektgruppe nicht bekannt. Aus diesem Grund beauftragte die Projektgruppe das DB-Unternehmen ioki, vorhandene Daten zusammenzutragen und eine Analyse anzufertigen. ioki gehört zu den führenden Anbietern für datenbasierte Mobilitätsanalysen. Das Ergebnis war überraschend. Es konnten Verkehrsströme festgestellt und eine konkrete Inanspruchnahme des ÖPNV im Verhältnis zu den Gesamtwegen erarbeitet werden. Dabei wurde auch der Zweck der Fahrten erfasst. Die Ergebnisse der Analysen deckten sich in einigen Fällen mit den Aussagen der Jugendlichen. Die Jugendlichen hatten beispielsweise die langen Wege zur Bushaltestelle moniert. Im Gutachten von ioki konnte diese Aussage bestätigt werden. Die Arbeit von ioki war für die Jugendlichen insofern verblüffend, da sie erleben konnten, wie schnell es möglich war, ohne aufwändige Befragungen ein Bild von Verkehrsströmen in Wilhelmsfeld nachzuzeichnen. Es hat sich die Frage gebildet, ob durch solche Projekte auch Veränderungen über einen längeren Zeitraum skizziert werden können. In der Endphase des Modellprojekts sind auch die Nachbarkommunen darauf aufmerksam geworden. Aufgrund dessen kam es zu dem Folgeprojekt in Schönau.

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